WAFFEN FÜR FRİEDEN

Kadir Biçer-KASSEL
Die Terrormiliz “IS” wütet besonders brutal in Irak, Syrien und Libyen. Nach den Anschlägen von Paris will sich nun auch Deutschland militärisch an der Anti-IS-Koalition beteiligen. Die deutsche Rüstungsindustrie und das Geschäft mit dem Krieg boomt immer mehr. Aktuell zu den Themen führten wir mit Dechant Harald Fischer aus der Region Kassel (Dekanat Kassel-Hofgeismar), der als Pfarrer in der katholischen Kirchengemeinde Sankt Familia zu Hause ist, ein Interview.

POST Gazetesi:
Herr Fischer, Sie sagten einmal: “Wir brauchen dringend eine Initiative in Kassel, die aus der Stadt der Rüstungsproduktion eine Stadt der Rüstungsumwandlung hin zu ziviler Produktion macht. Was steckt dahinter?

Harald Fischer:
Dahinter steckt der Grundgedanke, dass Frieden nicht mit Waffen zu schaffen ist. Waffen sind dafür geeignet, Krieg zu führen, und wenn diese Voraussetzungen erst einmal vorhanden sind, dann ist die Gefahr, dass Waffen eingesetzt werden, sehr groß. Ich misstraue der Politik der Militärs, die sagen, dass wir Waffen brauchen, um Frieden zu sichern. Wir sehen, wohin das führt.
Auf der einen Seite sind wir in Kassel eine der großen Rüstungsproduktionsstädten, zum Beispiel mit der Produktion von Leopardpanzern, die aktuell nach Saudi-Arabien geliefert werden sollen. Dass Saudi-Arabien in einem höchst konfliktträchtigen Gebiet liegt, ist allgemein bekannt. Ich bin ein entschiedener Gegner von Waffenlieferungen in Konfliktgebiete.
Auf der anderen Seite haben wir über 2000 Arbeitsplätze in Kassels Rüstungsindustrie. An diesen Arbeitsplätzen hängen entsprechend viele Familien. Wenn man wirklich den Abbau der Rüstung will, muss man das so umstrukturieren, dass die Arbeitsplätze nicht verlorengehen. Insbesondere die Produktion von Kleinwaffen ist problematisch, da sie verantwortlich für die meisten Toten sind.

POST Gazetesi:
Von welchen Toten sprechen Sie auf der Welt?

Harald Fischer:
Die Waffen werden an bestimmte Staaten geliefert, die Garantien geben müssen, dass sie die Waffen nicht weiterliefern. Das kann aber praktisch keiner kontrollieren. Dann finden wir deutsche Waffen in Händen von IS-Kämpfern wieder. Auch in Lybien hat man deutsche Waffen gefunden.

POST Gazetesi:
Wie geht die Politik und Wirtschaft damit um?

Harald Fischer:
Die Unternehmen brauchen die Bestellungen, brauchen Absatzmärkte; was dann damit passiert, ist nicht deren Interesse und auch nicht deren Thema. Politiker sagen: “Wir müssen dafür sorgen, dass die Rüstungsindustrie ihre Arbeitsplätze behalten kann”. Und da beißt sich die Katze in den Schwanz.

POST Gazetesi:
Auf meine nächste Frage haben Sie sich vorbildlich engagiert. Eine Gesellschaft, die humanitäre und demokratische Werte hat, kann sie Waffenlieferungen nach Syrien verantworten?

Harald Fischer:
Das ist unglaublich; ebenso unglaublich finde ich die Entscheidung, die im Dezember dieses Jahres gefällt geworden ist: Deutschland beteiligt sich am Kriegseinsatz in Syrien. Ich kann das überhaupt nicht nachvollziehen. Welche Rationalität soll damit verbunden sein? Wie jetzt mit Bombardements in Aleppo oder in anderen Städten dort die IS ausgelöscht oder begrenzt werden soll, damit die Terroristen in Frankreich bekämpft werden, ist mir völlig schleierhaft.

POST Gazetesi:
Die CDU Stadtverordneten Kassel haben sich gegen eine Rüstungsumwandlung ausgesprochen. Ist dies hinnehmbar, wo das C der CDU für christlich steht?

Harald Fischer:
Meiner Meinung nach kann diese Entscheidung nicht mit der christlichen Lebensgrundlage vereinbart werden.

POST Gazetesi:
Die Beziehung zwischen dem Islam und dem Christentum. Welche Rolle spielte Papst Franziskus? Ist er auf dem Pfad Johannes Paul II.?

Harald Fischer:
Ich erlebe Franziskus als einen großen Brückenbauer, der versucht zwischen den Kulturen und den Religionen einen Dialog zu ermöglichen. Johannes Paul II. hat den Irak- und Afghanistan-Krieg als Bankrott der Menschheit immer und immer wieder scharf verurteilt. Diese klare Ablehnung spricht auch Papst Franziskus aus.

POST Gazetesi:
Sind Sie der Meinung, dass in den Medien gerne Theologie, Religiosität und politische Standpunkte miteinander vermischt werden?

Harald Fischer:
Ähnlich wie es in den Fußballstadien Hooligans gibt, die dort hingehen, um unter dem Deckmantel “Fußball” Gewalt auszuüben, die mit Fußball aber im Grunde nichts zu tun haben, so gibt es “religiöse Hooligans”, die an der Religion kein Interesse haben und ihre Ideologie der Gewalt mit Religion durchsetzen wollen.
Ich finde wichtig, dass Muslime deutlich sagen, dass das nicht im Namen Allahs passiert oder nicht mit dem Koran übereinstimmt. Von christlicher Seite werden wir immer wieder sagen: “Ihr könnt die Gewalttäter nicht mit gläubigen Muslimen in einen Topf werfen.” Ich höre immer wieder von Muslimen, die sagen: “Terroristische Gewalt kann nicht im Namen des Islams geschehen”. Das ist gut! Ebenso wichtig finde ich, dass islamische Gelehrte und auch islamische Regierungen sagen, dass diese Gewalt nicht im Namen des Islams geschehen kann.
Der Koran gilt für Muslime als inspiriertes unmittelbares Wort Gottes. Deshalb gibt es keine kritische Reflexion des Textes wie in unserer christlichen bibelwissenschaftlichen Theologie zum Alten und Neuen Testament. Das bedaure ich sehr. Ich würde mir eine solche reflexive Auseinandersetzung mit dem Text des Korans sehr wünschen. Das bedeutet, dass man die Frage stellen muss: In welcher Zeit hat Mohammed die Suren aufgeschrieben, die Gewalt befürworten? In welcher Situation war er? Welche politischen Konflikte hatte er? Gegen wen hat er sich früher zur Wehr setzen müssen? Was bedeutet das heute? Eine solche Reflexion würde dem Islam sehr gut tun, weil dann eben nicht einfach Sätze, die 1300 bis 1400 Jahre alt sind, eins zu eins in die Gegenwart übertragen werden können, sondern man schaut zuerst: Was wollte Mohammed damals wirklich sagen und was bedeutet das heute für uns?

POST Gazetesi:
Sind Sie der Meinung, dass der Islam reformiert werden muss?

Harald Fischer:
Ja, in dem Sinn wie eben schon angemerkt: Es greift auf Dauer zu kurz, wenn immer wieder ‘nur’ gesagt wird, dass der Islam mit der Gewalt nichts zu tun hat, wenn sich die Islamisten und die IS-Kämpfer ja doch auf den Koran beziehen. Ich wünsche mir, dass der Islam sich dem akademischen Diskurs stellt und untersucht, wie es dazu kommt, dass so viele Leute für die Legitimierung ihrer Gewalt missbräuchlich den Koran als Begründung für Gewalt zitieren. Was sind die eigentlichen Ursachen? Wo kommt der Gewaltbezug überhaupt her? Was kann ich theologisch vom Islam her gegen die Gewalttäter sagen, die Sätze vom Koran zitieren? Was kann ich theologisch sagen, um mich damit inhaltlich gegen die Gewalttäter zu positionieren, die den Islam missbrauchen.
Das Christentum ist seit der Aufklärung durch eine kritische Text- und Glaubensreflexion gegangen. Auch wir haben uns diesen Fragen stellen müssen, denn auch in unserem Bibeltext gibt es Verse, die Gewalt befürworten. Für uns ist diese Reflexion lebenswichtig. Was sind unsere Grundgehalte des Glaubens, die zeitlos sind?

POST Gazetesi:
Die Austritte aus der Kirche. Nach all den Skandalen, was überwiegend einzelne gemacht haben, warum wird von den Kirchenmitgliedern die gesamte Institution bestraft?

Harald Fischer:
Die Kirche stellt sich selber als Autorität hin und macht moralische Vorschriften. Wenn dann führende Mitglieder dieser Kirche die moralischen Ansprüche selber nicht einhalten, sondern sich im scharfen Gegensatz dazu verhalten, dann wirkt sich das auf die ganze Institution aus. Durch ein solches Verhalten stellen Menschen die ganze Institution in Frage.

POST Gazetesi:
Nach all den Pädophil-Skandalen kamen Berichterstattungen, dass der Vatikan Sex zwischen Erwachsenen und Kindern ab 12 Jahren erlaubt.

Harald Fischer:
Innerhalb der katholischen Kirche ist Sex nur in der Ehe erlaubt und alles andere ist Sünde. Sex zwischen Kindern und Erwachsenen ist strafbar. Wer das als Priester macht, wird automatisch von allen seinen Ämtern und von der Kirche selbst ausgeschlossen.

POST Gazetesi:
In einem Fernsehinterview sprachen Sie vom militärischen Einsatz durch Israel. Finden sie es gerechtfertigt, wie die israelische Regierung und das Militär vorgeht?

Harald Fischer:
Nein, das finde ich nicht. Ich bin jedes Jahr zweimal in Israel und fahre auch nach Palästina. Ich erlebe, wieviel Unrecht dort passiert. Ich halte deshalb die Politik der derzeitigen israelischen Regierung, ihre Fried- und Perspektivlosigkeit für falsch.

POST Gazetesi:
Die beiden großen Kirchen wollen zusammen mit den Muslimen gegen den Missbrauch des Islams durch Terrorbanden ankämpfen. Was heißt das konkret?

Harald Fischer:
Es geht darum aufzuklären, was die wirklichen Grundlagen des Islams sind. Wir beteiligen uns an Veranstaltungen und Informationen über Themen wie “Was sagt der Islam wirklich?” und wir pflegen die Beziehungen und Freundschaften gegenüber Muslimen.
In Kassels “Rat der Religionen”, zu der der Oberbürgermeister einlädt und in dem die Religionen vertreten sind, die in Kassel gelebt werden, stehen die Beziehungen zwischen den Religionsgemeinschaften jedes Mal auf der Tagesordnung. Wir versuchen dort im Miteinander, das städtische Leben mitzugestalten.
In meinem Pfarrhaus leben drei junge Muslime aus Somalia als Flüchtlinge. Sie wohnen hier mit mir und gehen selbstverständlich freitags in die Moschee. Das respektieren wir nicht nur, das unterstützen wir auch. Aber das legt dann auch die Frage nahe, wie es eigentlich mit der Religionsfreiheit in der Türkei, in Afghanistan, in Somalia oder in Ägypten aussieht. Warum gibt es in vielen muslimischen Ländern keine Religionsfreiheit für Christen? Was wir hier für Muslime fordern, muss auch dort für Christen selbstverständlich sein. Die Christen in diesen Ländern können ihren Glauben nicht so frei ausüben wie die Muslime hier. Dass die Christen dort gleich frei ihren Glauben praktizieren können, muss sich zum Wohle beider Religionen dringend ändern.

POST Gazetesi:
Wie gehen Sie gegen Christen vor, die sich in Deutschland radikalisieren und in den Krieg ziehen?

Harald Fischer:
Dass Deutsche in den Krieg nach Syrien gehen, das weiß ich, aber dass Christen in den Krieg nach Syrien ziehen, ist mir neu. Momentan stehen 130 Rückkehrer in Gerichtsverhandlungen und weitere 200 Verhandlungen gegen Syrienrückkehrer werden vorbereitet. Ich glaube, dass man gegen sie erstmal nur rechtstaatlich vorgehen kann. Jetzt wird ein neues Gesetz vorbereitet, dass allein den Besuch eines Militärcamps in Syrien schon unter Strafe stellt. Ich finde es vollkommen richtig, dass wir eine wehrhafte Demokratie sind. Menschen, die sich gegen unsere demokratische Grundordnung wenden, muss Einhalt geboten werden.

POST Gazetesi:
Die sogenannte “IS” möchte einen Staat errichten. Indem wir diese Terroristen “Islamischer Staat” nennen, legitimieren wir nicht das, was die Terroristen wollen?

Harald Fischer:
Das ist der Name, den sich die Terroristen selber geben. Mit dieser Namensnennung geht es einfach um eine Identifizierung der Gruppe. Damit ist keine Anerkennung deren Ziele verbunden.

POST Gazetesi:
Der erste Mord in der Geschichte der Menschheit passierte, als Adams Sohn Kain Abel tötete. Kriege, seien es Kolonialkriege aus der Vergangenheit oder die heutzutage geführt werden; werden diese Kriege geführt, um auf geopolitische Macht Einfluss zu nehmen und Wirtschaftsinteressen zu vertreten? Finden Sie, dass diese Kriegsführer die Nachfolger von Kain sind?

Harald Fischer:
Diese Geschichte ist etwa vor 2600 Jahren geschrieben worden. Sie ist eine Reflexion auf die Erfahrung, dass Menschen in Eifersucht und Konkurrenz miteinander stehen. Diese Wirklichkeit ist in dieser Geschichte verdichtet und in einem Bild zum Ausdruck gebracht worden. Wir wissen aus heutiger Erfahrung, dass das immer wieder geschieht: Geschwister erheben sich gegeneinander, so wie wir es auch bei Muslimen und Juden in Palästina immer wieder erleben. Sie sind Halbbrüder. Die einen beziehen sich auf Ismail, die anderen auf Izaak. Beide haben Abraham als gemeinsamen Vater. Da kann man sogar sagen, dass dies ein Familienkonflikt ist. Wenn wir, wie ich das glaube, Kinder eines Gottes sind, dann sind wir eine Menschheitsfamilie. Wenn wir aus Konkurrenz, aus Angst, aus Habsucht gegeneinander aufstehen, dann kämpft Bruder gegen Bruder, Schwester gegen Schwester, Eltern gegen Kinder usw. Unsere Religionen aber sprechen von einem anderen Frieden, von Gerechtigkeit und Hoffnung auf ein echtes Miteinander. Dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen.